Blick über den Tellerrand – Tischtennis in Estland

Zum diesjährigen Jahresurlaub ging es für unser Vereinsmitglied Philipp Schulz mit dem Flieger von Dresden über Frankfurt nach Tallinn. Auch wenn der Fokus sicher nicht ausschließlich auf Tischtennis lag, so waren Schläger und Turnschuhe dennoch mit im Gepäck.

Zunächst ging es von Tallinn aus für drei Tage nach Tõrva, wo ich von einer Couchsurfing-Netzseite aus eine Unterkunft gefunden hatte. An Tischtennis war in dem 3500-Seelenort jedenfalls nicht zu denken, der nächste Verein war ca. 30 Kilometer entfernt. Dennoch ist Tõrva allein schon wegen der unberührten Natur ringsum eine Reise wert. Ein Paradies für Wanderer, Freunde des Angelsports und Pilzsammler. Gemeinsam mit den dortigen jungen Esten wurden zudem herrliche Abende am Lagerfeuer und in der örtlichen Bar verbracht. Doch am Samstag hieß es Abschied nehmen und ab in den Bus nach Pärnu steigen. Die Bahn ist in Estland ein eher unterentwickeltes Verkehrsmittel. Dafür fahren in kurzen Zeitabständen Busse zu wirklich sehr moderaten Preisen. Für 200 km zahlt man ca. acht bis zehn Euro. Pärnu ist ein Touristenort direkt am Meer. Aufgrund dieser Tatsache kommen stets sehr viele Finnen mit der Fähre nach Estland gefahren, um sich an den vergleichsweise günstigen Preisen für alkoholische Getränke zu ergötzen. Nach einem sehr heiteren Abend mit den Finnen wurde ich am nächsten Tag freundlicherweise vom (über Facebook kontaktierten) Turnierleiter abgeholt und mit ins 10 km entfernte Paikuse genommen. Es handelte sich dabei um eine Art Saisonvorbereitungsturnier, welches im Abstand von 3 Wochen an verschiedenen Orten in der westlichen Region Estlands stattfindet. Um die Serie zu gewinnen, muss man an mindestens vier von sechs Turnieren teilnehmen. Es ist dabei jedoch keineswegs ungewöhnlich, dass sich auf den Turnieren auch mal finnische oder lettische Spieler einfinden. Tischtennis verbindet eben. Auf dem Turnier in Paikuse waren 79 Spieler in einer wirklich supermodernen und schönen Sporthalle anwesend. Damen, Herren und Jugend spielen alle gemeinsam. Da es mehrere Platzierungsrunden gibt, ist es möglich, für jede Kategorie eine getrennte Wertung einzuführen. Letzten Endes waren Spieler verschiedener Spielstärken vertreten. Estland hat insgesamt fünf Ligen. Auch aus der ersten und zweiten estnischen Tischtennisliga waren mehrere Spieler vertreten, wobei man sagen kann, dass die erste Liga hier gutes Sachsenliganiveau und die zweite Liga gutes Landesliganiveau aufweist. Letzten Endes sprang für mich Platz 17 heraus. Hier wäre sicher etwas mehr drin gewesen. Einen Spieler aus der zweiten Liga hatte ich beim Stande vom 2:0 nach Sätzen schon fast eingetütet. Letzten Endes hat er sich jedoch immer besser eingestellt und das Spiel am Ende (nicht zu Unrecht) noch für sich entschieden. Hierbei muss allerdings gesagt werden, dass die Esten bereits seit zwei Jahren mit dem Plastikball spielen. Das Absprungverhalten ist als deutlich anders zu bewerten. M.E.n. fordert das Spiel mit dem Plastikball erheblich höhere Athletik. Für alle die darauf keine Lust haben eine super Gelegenheit den Schläger an den Nagel zu hängen :-D. Soweit so gut. Im Doppel bekam ich einen russischen Noppenspezialisten zugelost. In Estland leben sehr viele Russen. Das Zusammenleben erweist sich allerdings aufgrund von vorangegangener jahrzehntelanger sowjetischer Okkupation nicht immer als einfach. Sei es drum, leider mussten wir uns hier im fünften Satz gegen zwei Nachwuchshoffnungen beugen. Möglicherweise lag das auch darin begründet, dass taktische Absprachen nur in Zeichensprache möglich waren. Die Leistung der Nachwuchsspieler soll jedoch keineswegs herabgewürdigt werden. Die waren sowohl technisch als auch taktisch hervorragend geschult. Es gab einen sehr alten Trainer, welcher bemerkenswert mit den jungen Leuten umzugehen wusste. Also habe ich gleich die Gelegenheit zur Unterhaltung genutzt. Er selbst verfügte über einen erheblichen Fundus an Tischtenniswissen und hat sich nebenbei bemerkt auch dazu berufen gefühlt, seine Schützlinge zu guten schulischen Leistungen anzustacheln. Leider fehlt dem estnischen Verband ein wenig das erforderliche Kleingeld, um regelmäßig in Europa auf die Jugendwettbewerbe zu fahren. Auch sind wohl die Förderstrukturen (Sportschulen,…) in den umliegenden Ländern erheblich besser, sodass ein Vergleich mit Jugendlichen aus diesen Ländern oft wenig Sinn ergibt. Ansonsten bleibt zu bemerken, dass an den Tischen nicht so viel gemeckert und geflucht wird wie bei uns, wenn es aber mal einen Ausraster gibt und ein lautes „KURAT!!!!“ (was so viel wie „Teufel!“ bedeutet und bei besonders guten Bällen wie auch bei besonders einfachen Fehlern gleichermaßen angewandt werden kann) durch die Halle dröhnt, dann zuckt erstmal alles zusammen. Nach dem Turnier ging es am nächsten Tag nach Tartu. In Tartu steht die einzige Volluniversität Estlands. Es ist eine der schönsten Städte in Estland, für die man sich angesichts der zahlreichen Museen ruhig mal eine ganze Woche Zeit nehmen sollte. Die letzten beiden Tage stand dann noch Tallinn mit seiner herrlichen Altstadt auf dem Programm. Auch hierfür sollte man sich etwas mehr Zeit nehmen. In beiden Städten ist neben dem skandinavischen und russischen vor allem der deutsche Einfluss zu spüren. Estland und Deutschland weisen historisch durch den Schwertbrüderorden, später den Deutschen Orden, die Hanse und eine bis in die frühen 1940er Jahre im Land lebende deutsche Oberschicht eine enge Verbindung auf, was besonders an der altehrwürdigen Alma Mater in Tartu deutlich zu spüren ist. Viele der angesehensten Wissenschaftler waren hier speziell im 19. Jahrhundert Deutsche. Mit der englischen Sprache kommt man in Estland speziell bei der jungen Bevölkerung sehr weit. Das estnische zu erlernen, ist allerdings trotz zahlreicher deutscher Lehnwörter („Reisibüroo“, „Gümnaasium“, „Kartuli-vorsti-salat“,…) aufgrund der Zugehörigkeit zur finno-ugrischen Sprachgruppe ein sehr schwieriges Unterfangen. Das Estnische ist dabei noch am ehesten mit der finnischen Sprache zu vergleichen. Im Scherz bezeichnen sich Esten, rekurrierend auf die Zeit der Völkerwanderung, auch als die Finnen die nicht schwimmen konnten. Die Esten sind insgesamt betrachtet ein sehr stolzes und (nach bisweilen anfänglicher Zurückhaltung) sehr gastfreundliches Volk. Das Eine schließt also das Andere keineswegs aus. Es wird auf alle Fälle nicht die letzte Reise nach Estland gewesen sein. (PhS)

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